
Was bedeutet das: Vierdimensional komponieren? Die Klangkünstlerin, Saxofonistin und Noise-Liebhaberin Lea Bertucci hat in den letzten zehn Jahren Musik gemacht, bei der Zeit und Raum im Vordergrund stehen. Bei ihr liegt der Fokus auf anspruchsvollen und groß angelegten Arbeiten, die sie für „verrückte Räume“ geplant und verwirklicht hat. Zum Beispiel: Einfeldbrücken oder unterirdische Seen. Ihre Kompositionen versetzen die Spielenden und das Publikum in Bewegung und brechen dabei mit jeglichen Bühnenkonventionen. Als Solomusikerin beschallt Bertucci hingegen kleine Clubs mit Saxofon und Bassklarinette – ekstatischer Noise, der sich der Raumakustik anpasst. Hier werden die Wände, Decken und Luftmoleküle zu Partnern der Live-Improvisation. Bei Loop 2018 leitete Bertucci Gruppenimprovisationen auf Basis grafischer Partituren und sprach in einem Talk über ihre Komposition für das Kölner Festival Brückenmusik. Kurz vor der Veröffentlichung ihres neuen Albums „Resonant Field“ traf sie sich mit Craig Schuftan zu einem Gespräch über Zeit und Raum, die Subjektivität der Wahrnehmung und die Gefahren und Freuden des Hausfriedensbruchs.
Lea Bertucci spielt Saxofon, begleitet von subtiler Elektronik und Field Recordings aus alten Kassettenrecordern. Der Raum ist von schimmernden und tanzenden Sound-Patterns erfüllt – ständig in Bewegung und doch seltsam ruhig, wie Sonnenlicht auf einem See bei leichtem Wind oder ein morgendliches Vogelkonzert. Das Instrumentarium und die Klangpalette lassen an New York in den 1960er Jahren denken, und weil Bertucci La Monte Young und ähnliche Künstler:innen als Einflüsse nennt, steht sie definitiv in dieser Tradition. Doch wenn ihre Musik minimalistisch ist, steht sie den geschmeidigen Uhrwerken von Philip Glass oder Steve Reich damit viel weniger nahe als dem ekstatischen Maximal-Minimalismus der frühen Drone-Performances von La Monte Young und Marian Zazeela oder Bertuccis anderem Lieblingskomponisten Julius Eastman. Es dauert nicht lange, bis ich nicht mehr weiß, wie lange ihre Performance jetzt schon dauert. Und kurz darauf kommt es mir so vor, als ob die Zeit selbst unrund läuft – wie ein Kassettenrecorder mit einem leiernden Motor. Als ich Bertucci diese Symptome schildere, nickt sie wissend wie eine Ärztin, die bekannte Nebenwirkungen der verordneten Medikamente hört. „In meiner Musik gibt es keinen zuverlässigen Beat“, erklärt sie, „und auch keine konventionellen Akkordfolgen oder Melodien. Das kann die Zeitwahrnehmung der Hörer tatsächlich durcheinanderbringen.“
Laut Einstein ist Zeit die vierte Dimension, und Bertucci hat sich in letzter Zeit mit vierdimensionalen Kompositionen beschäftigt – ein ausgedachtes Genre, wie sie lachend zugibt: „Das gibt es nicht wirklich“. Aber es ist eine treffende Beschreibung für das, was sie macht. Beim Spielen und Komponieren verfolgt Bertucci einen ganzheitlichen Ansatz, der Zeit und Raum berücksichtigt, und uns nicht nur über die Reihenfolge musikalischer Ereignisse nachdenken lässt, sondern auch über die Höhe, Breite und Tiefe der Räume, in denen die Klänge umherspringen. Bertucci ist besonders von der Beziehung zwischen Musik, Architektur und dem menschlichen Sensorium fasziniert. Genauer gesagt von der Art und Weise, wie sich Klang im Raum verhält, und wie die Position der Zuhörer das Gehörte beeinflusst: „Die Subjektivität der musikalischen Wahrnehmung“. Und während sie in dieser Einzeldisziplin bereits an den ungewöhnlichsten Orten gespielt und komponiert hat – zum Beispiel an einem unterirdischen See in Upstate New York oder in einem schwedischen Kernkraftwerk – erweist sich der dahinterstehende Gedanke auch als nützlicher Rahmen für das alltägliche Musikmachen. Denn ob wir nun auf die Arrangement-Ansicht schauen, Punkte auf eine Notenlinie schreiben oder auf Push oder einer MPC Beats machen – um Alvin Lucier zu zitieren, sitzen wir dabei in einem Raum. Und Räume, wie Virginia Woolf sagte, haben sehr viele Formen und Größen.
„Die Mittel der englischen Sprache müssten gedehnt werden – ein ganzer Wortschwall müsste angesegelt kommen. Erst dann könnte eine Frau beschreiben, was beim Betreten eines Raums geschieht. Räume sind so verschieden: manchmal ruhig, manchmal tosend. Zum Meer hin offen oder wie ein Gefängnishof. Mit Wäsche vollgehängt oder lebendig mit Opalen und Seide. Borstig wie Pferdehaare oder weich wie Federn.“
Ginge es darum, die Vielfalt der Räume zu beschreiben, in denen die Komponistin des 21. Jahrhunderts aufnimmt, probt oder im Rahmen ihrer Solo-Tour durch Europa gastiert, wäre das Vokabular wohl ähnlich schnell erschöpft. Kastenförmig oder höhlenartig, mit schöner Akustik gesegnet oder von widerspenstigen Hallfahnen und seltsamen Reflexionen beherrscht – die vielgestaltige Veranstaltungsarchitektur brachte Bertucci dazu, den Raum als kompositorisches Element einzubeziehen: „Mein Interesse an diesem Aspekt des Musikmachens wurde unter anderem dadurch geweckt, dass ich an Orten mit sehr unterschiedlichen akustischen Bedingungen spielte und bemerkte, wie radikal unterschiedlich meine Musik klang. Das war also eine Sache, die ich über meine praktischen Tour-Erfahrungen kultiviert habe. In Hinblick auf die Improvisation änderten die Bedingungen vor allem meinen Umgang mit dem Instrument – zum Beispiel welche Noten ich spielen wollte. Raum und Akustik hatten direkte Wirkung auf mein Spiel.“
Aus den Zitronen, die sie von den Promotern bekam, machte Bertucci Limonade. Nach einer Weile drehte sie den Spieß einfach um und suchte mutwillig nach dem, was sie „extreme Umgebungen“ nennt, um ihre Performances und Kompositionen in neue Richtungen zu lenken. Bei Loop 2018 hielt Bertucci einen Vortrag über ihr bislang ambitioniertestes Unternehmen: eine ortsbezogene Komposition im Hohlkörper der Deutzer Brücke zu Köln, einer 437 Meter langen Einfeldbetonbrücke über den Rhein. Das Stück war für im Raum verteilte Gruppen von Musikschaffende konzipiert – bei der Aufführung sampelte Bertucci Klangfragmente und baute diese dann in den Mix ein. Währenddessen bewegen sich die Musiker:innen und Zuhörenden durch den Raum, und diese Bewegung wurde Teil des Stücks. Die Raumakustik der Brücke war so beschaffen, dass selbst ein kleiner Schritt und leichtes Schlurfen zu einem großen Klangereignis werden konnte: „Die Akustik ist sehr extrem, es gibt dort etwa 14 Sekunden Nachhall und alle möglichen anderen interessanten Phänomene – Reflexionen, Echos und akustische Schatten. Mein Stück sollte diese besonderen Eigenschaften nutzen.“
Lea Bertuccis Talk bei Loop 2018
Bertucci dabei zuzuhören, wie sie den Prozess des Komponierens und der Verwirklichung beschreibt, ist wie eine fröhlich auf den Kopf gestellte Welt zu betreten. Eine Welt, in der alles, was Performende und Tontechniker:innen normalerweise in den Wahnsinn treibt – etwa unkontrollierbarer Hall, das Rattern der Straßenbahn über den Köpfen oder Rückkopplungen – zum Arbeitsmaterial wird. Zum Beispiel war der Raumton der Brücke (die vorherrschende Frequenz, mit der der Raum schwingt und Rückkopplungen hervorruft) kein Hindernis, sondern das Fundament des gesamten Stücks. „Ich nutze eine Sinuswelle – von sehr tief bis sehr hoch“, erklärt Bertucci ihre Vorgehensweise. „Mit den Analyse-Aufnahmen kann ich den Raumton bestimmen und ihn als Grundton der Komposition verwenden. Ich nutze ihn als harmonische Basis und schaue mir die darüberliegende harmonische Reihe an.“
Wenn man die Stimmung eines Plug-ins oder eines YouTube-Videos übernimmt, handelt es sich höchstwahrscheinlich um eine gleichstufige Stimmung, in der die zwölf Noten der westlichen Tonleiter an gleichen Punkten entlang des Frequenzspektrums aufgereiht sind – mit der Note A bei 440 Hz. Doch wenn man die Stimmung des Raumtons einer 500 Meter langen Betonbrücke ermitteln will, bewegt man sich in einer Welt physikalischer Eigenschaften und tanzender Luftmoleküle, denen die gleichstufige Stimmung oder andere von Menschen entwickelte Tonbeziehungssysteme völlig schnuppe sind. Diese Beziehungen sind im mathematischen Sinne reiner, aber weil wir so an die gleichstufige Stimmung gewöhnt sind, klingen sie für uns oft „verstimmt“. Bertucci gibt zu, dass ihre Musik aus diesem Grund oft als dissonant empfunden wird, aber das stört sie nicht. Abseits des Rasters zu komponieren ist für sie nicht nur eine Frage des persönlichen Geschmacks, sondern auch eine notwendige Unterwanderung der Norm.
Als ich Bertucci frage, ob die Arbeit mit Raumton und Umgebungsgeräuschen ihre Beziehung zu Lärm verändert hat, verneint sie – schließlich sei die Beziehung schon immer gut gewesen. „Ich verstehe mich als Noise-Künstlerin“, sagt sie. Anders als das Saxofon, das sie schon seit dem neunten Lebensjahr spielt, nutzt Bertucci die Bassklarinette bewusst als Noise-Erzeuger. „Ich komme aus der experimentellen Underground-Noise-Szene – Lärm und Zufallsklänge waren für mich schon immer starke Mittel, um das Publikum wirklich herauszufordern und seine Toleranzschwelle zu hinterfragen.“ Sich auf die Geräusche der Umgebung einzustimmen, bedeutet für Bertucci, „unsere Beziehung zur Welt neu zu definieren und über all die Geräusche, die uns umgeben, nachzudenken“.
Dieser Prozess der Überprüfung und Neudefinition steht im Zentrum von Bertuccis künstlerischem Schaffen. Egal ob sie ein Ensemble in den Eingeweiden der Deutzer Brücke leitet, Saxofon-Patterns in kleinen Clubs improvisiert oder die Vögel vor ihrem Fenster aufnimmt: Bertucci hat offene Ohren für ihre Klangumgebung und macht sich immer viele Gedanken darüber, was sie – wenn überhaupt – hinzufügen will. Sie beschreibt ihre Arbeit gerne als „auf den Ort reagierend“ und legt großen Wert auf den Unterschied zum gängigeren Begriff „ortsspezifisch“, den sie ärgerlich findet: „'Ortsspezifisch' ist ein Reizwort für mich“, sagt Bertucci lachend. „Der Begriff wurde von Robert Smithson und Nancy Holt geprägt und von vielen frühen Earthworks-Kunstschaffenden verwendet, die Arbeiten in Beziehung auf den jeweiligen Ort erschaffen haben. In meiner Arbeit unterscheide ich gerne zwischen ortsspezifischen und auf den Ort reagierenden Arbeiten. Denn 'ortsspezifische Arbeiten' sind unverständlich, wenn sie aus dem Kontext des Ortes geholt werden.“ Bertucci hat zwar mehrere Aufnahmen ihrer ortsspezifischen Arbeiten veröffentlicht, zum Beispiel „Cephaid Variations“ oder „Double Bass Crossfade“, besteht aber darauf, dass sie eigentlich nur an den Orten der Aufführung existierten: „Praktisch gesehen bedeutet das, dass die Stücke eine sehr kurze Existenz haben. Es sei denn, die Dia Art Foundation unterstützt dich für den Rest deiner Tage!“
Bertuccis Bemerkung über diese vom Ölhandel finanzierte Kunststiftung, die in den 1970er Jahren riesige Summen in Projekte von La Monte Young, Walter de Maria und Donald Judd pumpte, lenkt den Blick auf die wirtschaftliche Realität hinter manchen Schlagworten der Kunstwelt. Wer – von den sehr Reichen oder sehr Glücklichen mal abgesehen – hat die Mittel zur Verfügung, um im Jahr 2020 irgendwo (geschweige denn in Bertuccis Heimatstadt New York) ortsspezifische Kunst machen zu können? Niemand – dafür ist die Miete einfach viel zu hoch. Und selbst wenn in Amerikas postindustriellen Städten leere oder verlassene architektonische Räume im Überfluss vorhanden sind, bedeutet das noch lange nicht, dass man dort einfach hineinspazieren und ein Oktett für Blechbläser planen kann – obwohl Bertucci es manchmal trotzdem versucht: „Ich wurde bereits des Hausfriedensbruchs beschuldigt“.
Wenn wir es uns also nicht leisten können, ortsspezifisch zu sein, können wir es uns auch nicht leisten, nicht auf den Ort zu reagieren – wir sind quasi dazu gezwungen. In ihrem Buch „Recording Unhinged“ empfiehlt die Rockproduzentin Sylvia Massy allen Bedroom-Producer, keine Zeit mit dem Träumen von einem „guten Studio“ zu verschwenden. „Glücklicherweise ist heute fast jeder Ort ein guter Ort zum Aufnehmen. Deine Aufnahmeumgebung wird zu einem Effekt, einem zusätzlichen Instrument. Nutze diesen Raum, denn er ist real und lebendig!". Und wenn der Produzent Kristian Craig Robinson auf die Zeit zurückblickt, in der er das Aufnahmestudio im Londoner Total Refreshment Centre leitete, war es für ihn vor allem die rohe urbane Akustik, die seine Aufnahmen so besonders machte: „Ich hasste das Konzept von Aufnahmestudios im Wald“, sagte er im Gespräch mit Emma Warren. „Dass dieser Raum aus Beton war, sich in Hackney befand und Stahlträger hatte, ließ ihn einfach wie in London klingen“. Ruhig oder tosend, weich wie Federn oder borstig wie Pferdehaare – unsere Aufnahmen und Konzerte sind auch Dokumentationen von Orten. Ihre Höhe, Tiefe und Breite tragen mehr zu ihrer Bewegung durch die Zeit bei, als uns bewusst ist. Das Komponieren in 4D mag eine Erfindung von Lea Bertucci sein, aber es ist trotzdem real.
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