- Electronica – Posts mit dem Tag %(tag)s: Electronica
- HipHop – Posts mit dem Tag %(tag)s: HipHop
- RnB – Posts mit dem Tag %(tag)s: RnB
- Recording – Posts mit dem Tag %(tag)s: Recording
- Simpler – Posts mit dem Tag %(tag)s: Simpler
- United States Of America – Posts mit dem Tag %(tag)s: United States Of America
- New York – Posts mit dem Tag %(tag)s: New York
- Collaboration – Posts mit dem Tag %(tag)s: Collaboration
Tony Seltzer und Anysia Kym: Die Entwirrung der Philostrophie

Die Producer Tony Seltzer und Anysia Kym aus Brooklyn stehen seit langem für unterschiedliche Punkte im Underground-Hip-Hop- und R&B-Universum. Seltzer war treibende Kraft in einer Subsektion des boomenden East Coast Rap und hat kinetische Soundscapes für MCs wie WiFiGawd, YLund Wiki geschaffen. Zuletzt hat er mit dem aufstrebenden New Yorker Rapper MIKE für Pinball and Pinball II zusammengearbeitet. Dabei sind Platten entstanden, auf denen prägnanter MIKEs Stil transformiert und mit donnernden Bässen und Trap-Drums durchtränkt wird. Anysia, die bei MIKEs Label 10k gesigned ist, steht für Hip-Hop-beeinflussten R&B, der nicht von dieser Welt zu sein scheint. Sie kombiniert hauchzarte Samples mit flackernden Elektro-Beats, während ihre sanfte Stimme alles miteinander verflechtet. Die beiden haben sich über MIKE kennengelernt und dann angefangen, selber zusammenzuarbeiten. Das Ergebnis ist „ Purity“, ein traumartiges 18-minütiges Album, das die Talente beider vereint. Gleichzeitig klingt es anders als alles, was die beiden je zuvor gemacht haben.
Wir haben das Duo kurz vor der Veröffentlichung von Purity getroffen und mit ihnen per Videocall in Seltzers Noc Noc Studios in Dumbo, Brooklyn über das Album gesprochen. Dabei sie uns einiges über die Ursprünge ihrer Zusammenarbeit, ihren Ableton-Workflow und ihre Vorliebe für kurze Songs erzählt.
MIKE war für euch beide sozusagen genau die Schnittmenge des Venn-Diagramms. Aber als ihr zusammen gefunden und eure ersten Sachen zusammen gemacht habt: Was hat dich, Tony, an Anysias Sound angezogen, und Anysia, was hat dich an Tonys Sound begeistert? Was hat euch inspiriert, diese beiden Welten zu verschmelzen?
Tony Seltzer: Mich ziehen immer experimentierfreudige Menschen an, die die Grenzen der Musik verschieben. Und ich kannte ihre Musik gar nicht, bis ich durch MIKE darauf aufmerksam geworden bin. Nachdem ich sie gehört hatte, dachte ich nur: „Hammer.“ So etwas habe ich noch nie gehört." Sie lässt sich von überall inspirieren, macht ihr eigenes Ding und schafft dabei völlig Neues. Und sie kommt auch aus MIKEs Welt – Sample-lastige Lo-Fi-Musik –, macht aber beim besten Willen keine Rap-Beats. Sie hat Jungle- und Dance-Einflüsse, aber alles bleibt im selben Sound. Ich fand das so cool.
Anysia Kym: Mir geht es genauso. Ich war mit Tonys Musik nicht wirklich vertraut. Aber ich hatte mitbekommen, wie MIKE Tony zum ersten Mal getroffen hat und anschließend über dieses Erlebnis sprach. Sinngemäß so: „Ich arbeite da mit so einem Producer zusammen und dabei entsteht gerade Musik, die ich so noch nie gemacht habe.“ Und dann habe ich sie gehört und dachte nur: „Bruder, mach bloß weiter damit. Das ist ein neues Level." Tony wusste das, was MIKE macht, zu nehmen und das Gegenteil damit zu machen. Und trotzdem fühlt es sich super authentisch an. Als Pinball herauskam, sind wir uns gegenseitig auf Instagram gefolgt und dann lud er mich ein, im Studio vorbeizukommen. Keiner von uns hatte irgendwelche Erwartungen und wir fanden ganz natürlich zusammen. Ich glaube nicht, dass uns klar war, dass wir ein Album machen würden, aber er war so offen für die Zusammenarbeit mit.
Purity bewegt sich in 18 Minuten durch eine Menge unterschiedlicher Stile und Genre-Bereiche. „Speedrun“ hat so ein atmosphärisches 90er Jungle-Feeling, „Great Escape“ erinnert an Boards of Canada und „Diamonds and Pearls“ ist an Footwork angelehnt. Gab es besondere Challenges, die ihr beiden euch gestellt habt, Sounds, die ihr dekonstruieren wolltet, oder Genres, an die ihr euch noch nie herangewagt habt?
Anysia Kym: Wir haben uns große Mühe gegeben, nicht immer dasselbe zu wiederholen. Wir haben „Speedrun“ gemacht, das war der Jungle-Moment, und das war’s.
Tony Seltzer: Wir wollten ein nostalgisches, Sample-lastiges Feeling. Wir haben viele Samples von Ambient-Synth-Tapes genommen, eben Synthesizer-Musik, und damit quasi die Musik der Zukunft, die sich aber trotzdem alt anfühlt. So haben wir eine Umgebung geschaffen, bei der auch unabhängig von den später folgenden Drums und Vocals die strukturelle Qualität dieser Basis bestehen bleibt. Wir haben zwei oder drei Songs geschrieben, bevor es irgendetwas in das Projekt geschafft hat. Wir mussten einen Workflow festlegen. Als erstes wollte sie Beats hören, die ich bereits gemacht hatte, was cool war. Aber die meisten meiner Beats sind härtere, raplastigere Beats.
„Ich erzähle nichts Neues. Aber wer das noch nie ausprobiert hat, dem könnte das durchaus Spaß machen: Man kann ein Sample komplett quantisieren und es dann in Simpler packen. Dann ist es schon quantisiert, wenn man die Viertelnoten-Chops draufpackt und es als MIDI abspielt. Eigentlich mache ich das lieber nicht. Ich schmeiße es lieber in Simpler und packe Viertelnoten darauf, aber nicht im Takt, damit die Samples dann eben so klingen wie sie klingen.“
Welchen Workflow habt ihr euch geschaffen?
Tony Seltzer: Als Erstes mussten wir das herausbekommen, was ich die „Philostrophie“ des Songs nennen würde, den wir machen wollen. Zusammengefasst also: „Welchen Genre-Einfluss, welchen Sound oder welche Stimmung spürt man?“ „Das war fast wie ein Moodboard. Wir haben auch alberne Sachen gemacht, zum Beispiel einen minimalistischen brasilianischen Funksong, der es nicht in das Projekt geschafft hat. Einige dieser Sachen hatte vorher keiner von uns ausprobiert, also haben wir das gemeinsam gemacht.
Anysia Kym: Tony hat mit dem Aufbau losgelegt und ich habe parallel dazu geschrieben, während ich Melodien ausgecheckt habe. Und jedes Mal, wenn ich was am Start hatte, hat er ganz unauffällig einen neuen Drumsound hinzugefügt, und ich habe dann die Melodie angepasst. Es war cool, dabei zusammenzusitzen. Ich habe etwas aufgenommen und dann meinte er: „Lass mich damit herumspielen.“
Ihr habt Purity vollständig in Ableton erstellt und verwendet es beide als Haupt-DAW. Was hat euch jeweils ursprünglich zu Ableton gebracht?
Tony Seltzer: Ich habe Ableton schon sehr früh auf meinem Weg als Producer kennengelernt und es war sehr offensichtlich, dass es für mich die richtige DAW war. Man hat eine Menge Flexibilität von Genre zu Genre, man kann so viel oder so wenig machen, und es fühlt sich in keiner Weise einschränkend an. Ich finde immer noch ständig Neues heraus.
Anysia Kym: Die DAW, mit der ich angefangen habe, war FL Studio, und sie war ziemlich restriktiv. FL Studios ist super quantisiert, was cool ist, aber wenn man experimentieren und choppen will – ich sample viel – fühlte es sich nicht wie die DAW dafür an. Das war, bevor ich mit dem Schreiben und Singen angefangen habe, daher war meine Arbeit eher beatlastig. Ich habe mitgekriegt, wie meine Homies Ableton benutzt haben, und es schien viel benutzerfreundlicher zu sein. Ich habe bei meinem ersten Projekt Ableton Lite benutzt und etwa zwei coole Jahre damit verbracht. Ich war dadurch etwas eingeschränkt und musste lernen, das System innerhalb dieser Grenzen zu einzusetzen. Aber im Grunde bin ich froh, dass ich mit Stützrädern angefangen habe, denn danach konnte ich noch so viel mehr herausfinden. Wie Tony schon meinte, ist es sowohl unendlich als auch gleichzeitig sehr benutzerfreundlich. Selbst wenn man also nicht alle Extras und den ganzen Schnickschnack kennt, kann man auf der Oberfläche schon einige wirklich coole Sachen machen.
Wenn ihr euch an eine Sample-Quelle oder einen Drum-Sound setzt, wie geht ihr da ran?
Tony Seltzer: Wenn ich beispielsweise ein Sample haben will, schmeiße ich das meistens in Simpler. Ich choppe das Sample, lasse es laufen und lege dann Drums, Bass, andere Synthesizer usw. darüber. Normalerweise baue ich einen Loop mit acht bis 16 Takten und sequenziere dann von dort aus; dieser Loop ist meistens der Höhepunkt des Beats.
Anysia Kym: Ich benutze auf jeden Fall Simpler.
Tony Seltzer: Früher habe ich Samples gechoppt, sie dann in Drum Rack gezogen und dann wie auf einem MPC gespielt. Ich habe meine Beats immer auf einem MPC gemacht und das hat mir dieses vertraute Gefühl gegeben.
Anysia Kym: Ich habe mich nie mit MPCs angefreundet.
Tony Seltzer: Das hat schon Spaß gemacht, aber egal, wie gut der Beat war, den ich gemacht habe; es war jedes Mal eine Herausforderung, ihn zu machen. Mir ist klargeworden, dass ich, wenn ich mit einem Künstler zusammensitze, workflowtechnisch lieber etwas zur Hand habe, mit dem er innerhalb von 15 Minuten anfangen kann zu schreiben. Ich benutze solche Hardware schon auch gern, aber ich bewege mich auch gern schnell. Mein Gehirn arbeitet schnell. Ein MPC macht Spaß, aber Ableton kann man eben auch gut nehmen. Seien wir ehrlich. [Lacht]
Ich erzähle nichts Neues. Aber wer das noch nie ausprobiert hat, dem könnte das durchaus Spaß machen: Man kann ein Sample komplett quantisieren und es dann in Simpler packen. Dann ist es schon quantisiert, wenn man die Viertelnoten-Chops draufpackt und es als MIDI abspielt. Eigentlich mache ich das lieber nicht. Ich schmeiße es lieber in Simpler und packe Viertelnoten darauf, aber nicht im Takt, damit die Samples dann eben so klingen wie sie klingen. Bei vielen Chops auf dieser Platte habe ich genau das gemacht. So findet man coole Rhythmen auch außerhalb des Tempos vom Original-Sample.

Gibt es neben Simpler noch andere interne Plug-Ins oder Effekte, die ihr immer wieder benutzt?
Tony Seltzer: Ich benutze oft das Delay mit etwas Filter drauf. Und ich mache viel Sidechaining mit dem Glue Compressor.
Anysia Kym: Was Plugins angeht, bin ich noch recht unerfahren, aber ich bin ein ziemlicher [Multiband Dynamics] OTT [Preset]-Dämon.
Tony Seltzer: Oh, klar, OTT. Ich lege einen Hauch OTT auf die Masterspur von jedem Beat. Das kommt von der elektronischen Musik, oder? EDM-Producer benutzen OTT, um ihre Bässe super abgefahren und groß klingen zu lassen. Ich packe es auf den gesamten Beat, um ein wenig Chaos reinzubringen.
Diese Platte klingt nicht wie irgendwas, das einer von euch beiden je gemacht hat. Was habt ihr jeweils über eure eigenen Prozesse gelernt?
Tony Seltzer: Wie alle Kollabos hat mir diese geholfen, Grenzen zu überschreiten und Neues auszuprobieren. Ich liebe es, mit anderen zusammenzuarbeiten, von ihnen etwas über ihre Produktions- und Songwriting-Ansätze zu lernen und sie dann auf meine Arbeit anzuwenden. Wenn man mit einem Künstler zusammenarbeitet und wirklich zu zweit an einem Beat sitzt, neigt man dazu, weniger am Beat zu feilen, um in den Songwriting-Prozess reinzukommen. Das hilft mir immer dabei, auf meine eigene Beat-Produktion zu schauen und mich zu fragen, ob es die 100 Percussion-Ebenen wirklich braucht, die ich reinbringen würde.
Anysia Kym: Ich habe den Großteil meiner Karriere, bis zu meinen letzten Collabos, größtenteils allein gearbeitet und bin an einen Punkt gekommen, an dem mir klar wurde, dass ich das Terrain mit jemand anderem testen musste. Es ist ein selektiver Prozess. Ich lerne gerne Leute kennen. Letztendlich machen wir Musik zusammen, aber es ist schön, eine gewisse Vertrautheit zu spüren. Und obwohl ich gerne alleine Musik mache, ist es immer super schön, auf jemanden zu treffen, von dem man sich inspiriert und angespornt fühlt. Mir kommt's vor, als ob ich Tonys Antwort klaue. [Lacht] Aber es ist bei mir dasselbe.
Anysia, deine letzte Collabo war Clandestine mit Lorraine James? Wie würdest du diese beiden Prozesse vergleichen?
Anysia Kym: Ich bin verwöhnt, weil ich viele Projekte persönlich machen konnte. Ich bin nicht scharf auf dieses Sachen-hin-und-her-Schicken. Lorraine und ich haben uns ungefähr fünf Tage lang zusammengesetzt. Wir hatten uns jeweils gegenseitig für unsere Musik bewundert. Die Challenge bestand in der zeitlichen Einschränkung, weil ich nur kurz in London war. Es war der gleiche Workflow wie bei Purity, d. h. sie hat etwas gemacht, ich habe dazu geschrieben und es aufgenommen. Ich glaube, wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie den Beat gemacht und mich mit ihm nach Hause geschickt. Aber ich dachte mir: „Wenn mir jetzt eine Melodie einfällt, lass sie mich recorden und dann können wir von dort aus weitermachen.“ Stilistisch benutzt Lorraine mehr Textur als Drums, und Tony ist viel schlagzeuglastiger. Es war echt cool, beide Rangehensweisen waren sehr schön.
MIKE & Tony Seltzer – „71“ von Pinball II
Tony, wie war dieser Prozess im Vergleich zur Pinball-Reihe mit MIKE, der Heat Check-Serie mit WiFiGawd oder auch der Hey Tony-Compilation von 2021?
Tony Seltzer: MIKE kam vorbei und ich habe Beats gedroppt, die ich die Woche über gemacht hatte. Er hat sich einen ausgesucht und mit dem Schreiben losgelegt. Mein Hauptjob war es, auf der Couch zu sitzen, irgendwann aufzustehen, um ihn aufzunehmen, und mich dann um die Postproduktion zu kümmern. Es waren haufenweise Leute da, totale Partystimmung. Für mich nicht unbedingt weniger Arbeit, sondern eine andere Art von Arbeit. Besonders bei Pinball II habe ich mich intensiv mit der Postproduktion beschäftigt, mit Mixing zwischen den Songs, Soundeffekten und ich habe lauter lustige Gimmicks hinzugefügt.
WiFiGawd & Tony Seltzer – „Fancy“ von Heat Check Vol.2
Mit WiFi, für die Heat Check-Reihe — Heat Check, Vol. 2 im Besonderen – ähnelte dem, was Anysia und ich gemacht haben. Er kam vorbei, ich habe aus dem Stand einen Beat gemacht und er nahm dann gleich darauf auf. Aber noch einmal, ein einfacher Prozess: Ich mache einen Beat, was schwer ist, er nimmt auf, dann ein bisschen Nachbearbeitung, und das war’s.
Obwohl wir die Songs bei diesem Projekt in einer einzigen Session fertigmachen konnten und das auch gemacht haben, fühlte es sich tiefgründiger an. Bei der Auswahl der Sounds und Rhythmen haben wir uns etwas mehr Zeit gelassen und uns nach den Vocal-Aufnahmen für ein Processing entschieden. Layern wir die Vocals für den hier? Lassen wir sie eher blank?
Viele der Songs scheinen von bestimmten Dancemusic-Genres beeinflusst zu sein, und dennoch gibt es nur einen Song, der länger als zwei Minuten ist. Man kriegt den Vibe und ist sofort woanders. Warum wolltet ihr die Songs für diese Platte kurz halten?
Tony Seltzer: Ich liebe einfach kurze Tracks. Ich habe zwei Modi, mir Sachen anzuhören: Entweder ich höre mir ein ganzes Album richtig an oder ich höre mir einen Moment in einem Song an, den ich liebe. Bei den Songs auf Purity denke ich genauso. Wir kommen darin schnell zum Punkt und wenn man ihn mag, kann man sich das Ganze auf Repeat wieder anhören. Am Ende haben wir eine kleine Geschichte dazu geschrieben, damit es so ist, als hätte man ein Buch und jeder Song ist eine Seite eines Tagebuchs oder so etwas. Man liest eine Seite, blättert aber nicht um, um die Fortsetzung des Songs zu erfahren. Als nächstes kommt ein ganz neuer Track. Und dann ist da noch das Umblättern der Seiten. Wir haben uns bewusst dazu entschieden, keine Übergänge zwischen den Liedern einzubauen, wie ich es bei Pinball II gemacht habe. Es soll sich anfühlen, als würde man die Seite umblättern und zum nächsten Song wechseln.
Anysia Kym: Um auf Tonys Punkt einzugehen: Wenn ich mir ein 45-minütiges, einstündiges Album anhöre, wie z. B. das Album Purple Naked Ladies von The Internet, ist "Love Song 1" nur 45 Sekunden lang, und das ist mein Lieblingssong von dem ganzen Scheiß. Ich liebe Ohrwürmer. Man kann ein Album mit drei- oder vierminütigen Songs haben, aber der kurze Ohrwurm löst immer wieder den Reflex aus: „Oh, den muss ich mir noch einmal anhören.“
Folge Anysia Kym auf Instagram. Folge Tony Seltzer auf Instagram.
Text und Interview: Dash Lewis