
Christopher Tignor ist ein Elektronikmusiker, Geiger, Komponist und Softwareentwickler aus Brooklyn, New York. Neben weiteren Errungenschaften erhĂ€lt Tignor derzeit zwei Sponsorenschaften: vom Software-Hersteller Antares und vom deutschen Stimmgabel-Hersteller Wittner. Diese Partnerschaften existieren nicht, weil Tignor ein Meister-Anwender von Antares- oder Wittner-Produkten ist, sondern weil er fĂŒr sie völlig neue Verwendungen entwickelt hat. Antaresâ Plug-in Auto-Tune hat er zu einem raffinierten âchoralenâ Harmonizer umfunktioniert, der seiner live gespielten Violine Obertöne hinzufĂŒgt. Die Wittner-Stimmgabeln nutzt Tignor als resonante Drum-Sticks â er schlĂ€gt Hi-Hats und Triangeln damit an, um metallische Sounds zu erzeugen, und hĂ€lt die Stimmgabeln anschlieĂend fĂŒr resonierende Drones an seine Violine. Christopher Tignor ist also ein Elektronikmusiker, Geiger, Komponist und all das, aber auch jemand, der ĂŒber den vorgesehen Zweck eines Tools hinausdenken und Wege entdecken kann, es an seine kĂŒnstlerischen BedĂŒrfnisse anzupassen.
Christopher Tignor war ĂŒber die Jahre in mehreren Bands und Ensembles aktiv, Ende 2016 veröffentlichte er auf dem Label Western Vinyl sein DebĂŒt-Soloalbum Along a Vanishing Plane â ein raumgreifendes, stellenweise sehr berĂŒhrendes Album, das Violine und Percussion mit elektroakustischen KlĂ€ngen und Echtzeit-Soundbearbeitung zusammenbringt. Alle StĂŒcke wurden von Tignor mit einem vielfĂ€ltigen Instrumentarium live eingespielt: Kick-Drum, Hi-Hat, Triangeln, Stimmgabeln, Windspiel und Violine, die durch ein spezielles Ableton-Setup mit selbst entwickelten Anwendungen (mit Namen wie Five Finger Discount, Trigger Finger oder Super Conductor) geschickt werden. Erstaunlicherweise funktioniert alles ohne die Play-Taste â Tignor legt viel Wert darauf, dass es in seiner Musik keine vorgefertigten Spuren oder Loops gibt. Stattdessen kann ein filigranes Netz aus live gespielten Sounds und Gesten beliebig viele AblĂ€ufe und weitere Sounds im Computer des Performers starten. Zu beobachten, wie eine Tignor-Komposition in Echtzeit entsteht, ist ein unvergessliches Erlebnis.
âShapeshiftingâ von Christopher Tignors Album âAlong A Vanishing Planeâ
Tignor hat einzigartige Wege gefunden, Live anzuwenden und Anwendungen zu entwickeln, um eine Welt unmittelbar entstehender Sounds zu eröffnen. Wir kontaktierten ihn, um Einblick in sein kreatives Denken zu gewinnen. Erfreulicherweise war Christopher gerne bereit, ĂŒber seinen kompositorischen Ansatz und die Entwicklung seines Setups zu sprechen, und uns zu verraten, warum er so viel kreative Energie dafĂŒr aufwendet, Methoden der live gespielten elektronischen Musik zu erfinden. DarĂŒber hinaus stellt er einige seiner Max-for-Live-Anwendungen zum kostenlosen Download bereit.
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Was bedeutet es fĂŒr dich, live zu spielen?
Ich habe dafĂŒr eine strikte Definition: Die Sounds entstehen in dem Raum, in dem sich das Publikum befindet. Das heiĂt, ich spiele keine festgelegten Elemente oder vorab aufgenommenen Tracks.
Wie der Aufkleber auf deinem Live-Setup schon sagt: âKeine Tracks, keine Loops.â
Genau, âKeine Tracks, keine Loopsâ. Ich habe das dort draufgeklebt, weil ich von Tontechnikern die Schnauze voll hatte, die meinen Computer sehen und fragen: âOK, und da kommen Beats raus?â In gewisser Weise beschreibt es meine Ideologie, wenn auch auf pedantische Weise (um etwas zu verdeutlichen, muss man manchmal einfach pedantisch sein). FĂŒr mich ist der Punkt wichtig, da ich meine Musik nicht machen könnte, wenn sie [zeitlich] fixiert wĂ€re. Es geht darum, was die Musik braucht, und sie sagt mir, dass sie nur entstehen kann, wenn sie ohne vorgefertigtes Material performt wird. Das gilt nicht fĂŒr jede Musik, aber fĂŒr meine schon.
Ich mache seit vielen Jahren, fast schon Jahrzehnten, elektronische Musik, die auf live gespielten und bearbeiteten Elementen basiert. Deshalb habe ich mich oft mit diesen Fragen beschĂ€ftigt: âWas bedeutet es, ein elektronischer Live-Musiker zu sein? Welche QualitĂ€ten sind wichtig, was funktioniert und was nicht?â Und mit letzterem meine ich, dass mich die phĂ€nomenologischen Aspekte der Publikumserfahrung von Musik interessieren. Ich habe viel Zeit damit verbracht, dem Publikum zuzuhören und sein Feedback einzufangen, um herauszufinden, was fĂŒr die Leute funktioniert.
âWeise Elektronikmusiker werden sich fragen: Welche musikalischen Entscheidungen sollten die Maschinen treffen und welche lieber der Mensch?â
Oft bekomme ich von Zuhörern gesagt: âMir gefĂ€llt der Live-Aspekt deiner Musik.â Sie kennen die genauen AblĂ€ufe nicht, und mĂŒssen sie auch nicht kennen, aber sie fĂŒhlen offensichtlich die Verbindung zwischen dem Gehörten und dem, was ich auf der BĂŒhne mache. Das Problem bei elektronischer Musik: Sie wird meist als âkörperlosâ angesehen. Ich sage âProblemâ, aber natĂŒrlich kann man es zu einem Merkmal machen und interessante Dinge daraus entwickeln. In den meisten FĂ€llen passiert das aber nicht â niemand lĂ€sst sich darauf ein. Es ist zu einer KrĂŒcke geworden, und der körperlose Charakter âkonservierterâ Sounds fĂŒhlt sich manchmal wie Karaoke an. Das ist natĂŒrlich kein neuer Gedanke. Aber das Publikum ist schlau und merkt, wenn es hinters Licht gefĂŒhrt wird. Die Leute sind es zwar gewohnt â jahrelang wurden sie darauf eingeschworen, sich an Musiker zu gewöhnen, die fertige Tracks vorspielen â doch am Ende des Tages frage ich mich, ob sie das wirklich besser finden. Das Publikum findet es doch toll, bei Konzerten an der Entstehung der Musik teilzuhaben.
Das sind naheliegende Wahrheiten, die eine Weile lang beiseite geschoben wurden, vielleicht auch weil es schwierig ist, elektronische Musik wirklich live zu prĂ€sentieren. Was ich mache, erfordert viel Arbeit und Ăbung, und es gibt viel Risiko â wenn etwas live schiefgeht, geht es richtig schief. Ich muss viel mehr Zeit fĂŒrs Ăben investieren als jemand, der einen Track komponieren und dann spielen kann: Ich muss lernen, das Instrument wirklich zu spielen, das ist nicht jedermanns Sache. Doch vom Publikum kommt etwas zurĂŒck, wenn man sich die Arbeit macht und risikobereit ist. Der Witz bei Live-Shows ist das Risiko, das darin liegt â und wenn man versucht, das wegzunehmen, macht man das, was die Kunst zerstört, nĂ€mlich weniger aufs Spiel zu setzen. âWas steht auf dem Spiel?â ist ein zentraler Bestandteil jeder Kunstform, ob Performance oder Roman. Und wenn du versucht, das Risiko abzuschwĂ€chen, das heiĂt, die Elektronik lediglich als praktisches Mittel zu nutzen, dann setzt du oft auch weniger aufs Spiel, was [fĂŒr mich] der falsche Weg ist.
Denkst du, dass dem GroĂteil des Publikums bewusst ist, dass weniger auf dem Spiel steht, oder dass es ihm etwas ausmacht?
Ja, natĂŒrlich. Das muss man nicht in der Hirnrinde verstehen â auf diesen Gehirnteil zielt Musik sowieso weniger ab â aber sie wissen es, das Stammhirn weiĂ es. Weise Elektronikmusiker werden sich fragen: Welche musikalischen Entscheidungen sollten die Maschinen treffen und welche lieber der Mensch? Und dann werden sie die richtigen Entscheidungen wĂ€hlen, damit beide besser zusammenarbeiten. FĂŒr mich zum Beispiel ist es nicht sehr musikalisch, mittels live gespielten Loops ĂŒber den Takt zu entscheiden (was ich in anderen Bands gemacht habe). Wenn man zu einem festgelegten Beat spielt und versucht, die Start- und Endpunkte des Loops zu treffen, dann versucht man es nur so exakt wie möglich hinzubekommen, was eine Maschine wahrscheinlich besser könnte. Wenn man frei vom Takt live loopen wĂŒrde, wĂ€ren Feinheiten möglich. Doch wenn dein Ziel darin besteht, perfekt synchron zu einem Beat zu spielen, lieĂe sich das automatisieren und wĂ€re eine Entscheidung, die am besten von einer Software getroffen wird. Wenn man etwas im Takt aber ein wenig dehnen will, ist das eine menschliche Entscheidung â darin wird eine Maschine niemals annĂ€hernd so gut sein wie ein Mensch. Diese musikalische Entscheidung sollte beim Livespielen spontan getroffen werden.

Der Begriff âlive gespielte elektronische Musikâ könnte fĂŒr manche Leute gleichbedeutend mit Improvisation sein. FĂŒr dich ist das aber etwas anderes, oder? Wo liegen fĂŒr dich die Unterschiede?
Aus der Perspektive der klassischen Musik lĂ€sst sich die Frage sofort beantworten. Gibt es dort Improvisation? Nein. Gibt es festgelegte Spuren? Nein. Doch alles passiert live, weil es eine Partitur gibt. Dieses Problem ist also seit Hunderten von Jahren gelöst, und ich mache im Prinzip nichts anderes [lacht]. [FĂŒr meine Musik] habe ich eine Partitur, die im Wesentlichen in den Anwendungen gespeichert ist â man kann dort eine Reihe von MIDI-Noten programmieren und ĂŒber Trigger (oft sind es Drum-Trigger) durch die Noten scrollen. Es gibt also eine Partitur, Ă€hnlich wie fĂŒr ein Brahms-Quintett, aber ich kann das Timing beim Bewegen von einer Note zur nĂ€chsten live steuern. So kann ich die eigentlichen Instrumente [Violine, Stimmgabeln, Triangeln, Hi-Hat, Kick-Drum] weiterhin spielen, ohne wĂ€hrend des Livesets den Computer zu berĂŒhren, auĂer vielleicht zwischen Songs oder um bestimmten Elementen den Einsatz zu geben. Es ist wirklich einfach. AuĂerdem kann ich wie bei klassischen Partituren Entscheidungen auĂerhalb der Daten in der Partitur treffen. Es gibt also keine exakte Abgrenzung zwischen Improvisation und Partitur, sondern ein Kontinuum. Meine Musik ist sicherlich eher auf Seiten der Partitur, doch es gibt Variationen zwischen Performances, und das Tempo ist in diesem Moment stets komplett mir ĂŒberlassen. Diese Musik ist besonders frei [in Hinsicht auf den Takt], es gibt also viel Auswahl. Sobald man die Idee einer Partitur akzeptiert, wird [in Sachen Live-Interpretation und Performance] vieles möglich.
Dein jĂŒngstes Album Along a Vanishing Plane wurde als eine einzelne Performance live eingespielt. Warum wolltest du es auf diese Weise aufnehmen?
Diese Vorstellung, dass die Musik uns sagt, dass sie eine sehr genaue Idee davon habe, wie sie existieren könne: als Live-Performance; das faszinierte mich und meinen Tontechniker, Tyler Wood. Als ich die Songs komponierte, hatte ich mich bereits auf einer praktischen Ebene gefragt: âWie nehme ich das ĂŒberhaupt auf?â Die Songs gerieten so auĂer Takt, dass ich mir die Möglichkeit von Overdubs nicht vorstellen konnte, und am Ende sagte mir die Musik, was sie hinsichtlich der Aufnahme brauchte. Meine Musik ist von Natur aus eine Live-Erfahrung, somit war es entscheidend das beim Aufnehmen zu respektieren, weil es anders einfach nicht funktionieren konnte. Also entschieden wir uns dafĂŒr, diesem Konzept kompromisslos zu folgen, und auch eine traditionelle Aufnahmestudio-Umgebung zu vermeiden. Studios eignen sich super fĂŒr den anderen Weg â den Post-Beatles-Studio-als-Instrument-Weg. Das ist eine wunderbare Sache, doch nachdem wir eine Weile darĂŒber nachgedacht hatten, war uns klar, dass es bei dieser Musik um etwas anderes geht.
Also begaben wir uns in diesen Raum in Hudson, New York, der gut klang und gut aussah. Das GebĂ€ude war frĂŒher zuerst eine psychiatrische Klinik, danach ein Schulhaus. SpĂ€ter wurde es von KĂŒnstlern gekauft, um Ateliers einzurichten. Sie lieĂen uns dort arbeiten und wir bauten sieben Mikrofone und drei Videokameras auf, um das Ganze aufzunehmen. Zwischen lĂ€ngeren Abschnitten haben wir natĂŒrlich editiert, doch das Projekt machte SpaĂ, weil es zurĂŒck zu den Wurzeln ging â eine Performance im Moment ihrer Entstehung aufnehmen.
âThe Will and The Waitingâ mit Triangeln, Stimmgabeln und Windspiel
Wie kamst du auf die Idee, in deinen Performances Stimmgabeln als Instrumente einzusetzen?
Das war wahrscheinlich Zufall. Musiker lieben Stimmgabeln, weil sie schöne Objekte sind â wahrscheinlich spielte ich mit einer herum und berĂŒhrte versehentlich meine Violine damit, wĂ€hrend ich meine [selbst entwickelte] Five Finger Discount-Anwendung geöffnet hatte. Sie machte aus dem Sound eine Melodie. Ich dachte, âVerdammt! Wie kann ich damit arbeiten?â Am Ende passte es hinein und beeinflusste von Beginn an meine Herangehensweise an das Album. Es passte auch zur Idee der metallischen Percussion, die ich fĂŒr das Album hatte.
Percussion ist ein vielerlei Hinsicht eine schöne Sache und liefert einen tollen Kontrast zu ausgedehntem, lyrischen Violinenspiel. Ich wollte, dass es diesen Kontrast gibt. Mit der Stimmgabel als perkussivem SchlĂ€gel (auf Hi-Hat und Triangeln, um die Metall-auf-Metall-Sounds zu erzeugen) konnte ich das GefĂŒhl von Metall anders wahrnehmen. Indem ich es zu einer Melodie werden lieĂ, entwickelte ich eine Verbindung zwischen den lyrischen und melodischen QualitĂ€ten der Violine und dem perkussiven Anschlagen des Metalls. Ich bin es, der die beiden Elemente verbindet: In der linken Hand halte ich die Violine, schlage mit der Stimmgabel in der rechten Hand die Triangel oder Hi-Hat an und halte dieselbe Stimmgabel in der Mitte an die Violine. Diese körperlichen/rĂ€umlichen/visuellen Elemente tragen wiederum dazu, dass das Live-Erlebnis fucking live ist.
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