Es waren die Liedermacher der 60er Jahre, die Protestmusik populĂ€r machten. Aber genauso wie es auf die Musik insgesamt zutrifft, sind auch die Formen der Protestmusik heute vielfĂ€ltiger. Warum KĂŒnstler sie schreiben, muss wohl kaum erklĂ€rt werden â Rassismus, Sexismus und die Skepsis gegenĂŒber brutalen globalen Wirtschaftssystemen sind einige naheliegende GrĂŒnde und liefern ganz klar eine Inspirationsquelle.
Aber wie kann man diese Energie fĂŒr sich einsetzen? SĂ€nger profitieren gewöhnlich von Strophenform und ErzĂ€hlung, um ihre Botschaft herĂŒberzubringen. Aber elektronische Musiker mĂŒssen da kreativ vorgehen, weil sie hauptsĂ€chlich instrumental arbeiten. Wir wollten mehr ĂŒber die verschiedenen Protestformen herausfinden und uns mit den zugehörigen GedankengĂ€ngen und Methoden befassen. Deshalb sprachen wir mit einigen KĂŒnstlern, deren Arbeiten die sozialen VerhĂ€ltnisse zugleich beschreiben und kritisieren.
Lotic

Den in Berlin lebenden US-amerikanischen Produzenten Lotic traf ich 2015 fĂŒr ein Interview. Er ist auch als JâKerian Morgan bekannt und steht bei Tri Angle Records unter Vertrag. Er erzĂ€hlte mir: âIch wollte laut sein und mich durch meine Kunst ganz frei als schwarzer Schwuler Ă€uĂern und es nicht bloĂ stĂ€ndig in Interviews sagen.â Wer seine auffĂ€lligen Produktionen hört, der spĂŒrt Fremdsein, Wut, Gewalt, Erregung und Erstaunen, meist gleichzeitig in einem Track.
Als ich ihn spĂ€ter noch einmal darauf anspreche, inwiefern das Einstehen fĂŒr seine IdentitĂ€t seine Musik prĂ€gt, erzĂ€hlt er: âIch versuche Musik zu machen, die mir gefĂ€llt, aber ich versuche, sie so zu gestalten, dass die Leute sie nicht sofort mit den Begriffen schwarzer Musiker oder schwuler Musiker in Verbindung bringen. Ich finde es wichtig, diese LĂŒcke zu fĂŒllen, damit Schwarzsein zur NormalitĂ€t wird. Noch dazu muss ich gewisse KĂ€mpfe jeden Tag ausfechten, sogar wenn ich gar nicht das Haus verlasse. Sie sollen in meine Musik einflieĂen. Kleine Sachen, die damit zu tun haben, dass ich nicht bloĂ schwul bin, sondern auch noch feminin. Besonders in der Schwulen-Community ist der Frauenhass krankhaft, genauso wie der Rassismus. Das versuche ich alles dort hineinzupacken.
Der Titel âTraumaâ handelt von den stĂ€ndigen Mini-Aggressionen. Wenn dich jemand jeden Tag mit einer Stecknadel piesackt, dann bekommst du davon irgendwann Narben. FĂŒr den Track nutzte ich irgendein dĂ€mliches Dubstep-Sample, bei dem eine Kick-Drum an diesem Kreischen mit dranhing. Der Effekt, den ich darĂŒber legte, lieĂ es wie einen echten Schrei klingen. Ja, das ist deutlich, aber ich dachte, ich brĂ€uchte etwas eher Offensichtliches, um die Idee rĂŒber zu bringen. Die Melodie dazu klingt total wie in einem Horrorfilm. Ich leite eine EP namens Agitations mit dem Track âTraumaâ ein. Das war also durchaus Absicht.â
Wie viele andere StĂŒcke von Lotic, wirkt âTraumaâ einerseits anziehend und faszinierend, aber andererseits auch verwirrend und unzugĂ€nglich (wobei letzteres sicher auch die Ursache fĂŒr ersteres sein kann). Morgan findet das auch: âJa, das stimmt. Ich will zwar, dass gut aufgepasst wird, aber ich will dabei trotzdem Distanz. Ich glaube, die meisten meiner zwischenmenschlichen Handlungen laufen so ab. Vielleicht mittlerweile nicht mehr ganz so sehr, aber wenn du von einer schwarzen Mutter aufgezogen wirst, sagt sie dir immer wieder: âSei vorsichtig, wenn du anderen Leuten vertraust, denn sie vertrauen dir nicht.â Und dazu sagt sie Sachen wie âLass dich nicht ĂŒber den Tisch ziehen, tanz nicht aus der Reihe.ââ Morgan bestĂ€tigt auĂerdem, dass der Sozialkommentar fest mit seiner Musik verbunden ist: âEs geht ĂŒberhaupt nicht anders. Ich glaube, seit ich in Europa lebe, passiert mir das öfter, weil ich mich an keine richtige schwarze Community mehr wenden kann, um solche Themen anzusprechen. Deshalb beschĂ€ftigen mich die Dinge innerlich, sie gehen irgendwohin und kommen dann dort raus. Ich finde, jeder der eine Plattform hat und sie nicht nutzt, handelt unverantwortlich. [lacht] Gleichzeitig glaube ich, dass die meisten in der Musikindustrie sich nicht besonders viel damit beschĂ€ftigen mĂŒssen, deshalb können sie darĂŒber auch nichts erzĂ€hlen. Sie haben eigentlich zu ĂŒberhaupt nichts etwas zu erzĂ€hlen.â
Peder Mannerfelt
Geboren in einem der reichsten LĂ€nder der Welt und noch dazu in einem, in dem seit 200 Jahren Frieden herrscht, hĂ€tte der Schwede Peder Mannerfelt leicht jemand sein können, der keine echten Sorgen kennt. Stattdessen manifestiert sich sein politisches Gewissen im StĂŒck âLimits to Growthâ vom Album Controlling Body auf eine andere Weise. Dort hinterfragt er nĂ€mlich die Nachhaltigkeit des kapitalistischen Wirtschaftsmodells, das von unbegrenztem Wachstum ausgeht. Wie er auf der Loop-Konferenz letzten Herbst erklĂ€rte, gingen diese Gedanken direkt in die Produktion des monolithischen Tracks ĂŒber: in seine langsame Entfaltung und in das sarkastische neoliberale Mantra der gesampleten Stimmen.
ZiĂșr
Die in Berlin lebende Produzentin ZiĂșr hat wie Lotic das GefĂŒhl, dass Politik zu ihrem Wesen gehört. Als Transfrau sagt sie: âMeine bloĂe Existenz ist politisch.â Aber sie macht deutlich: âIch schreibe keine StĂŒcke mit einer speziellen Botschaft. Es steckt eher im Subtext, meine Musik drĂŒckt aus, wie ich als ich selbst funktioniere. Das ist quasi wie ein drittes Bein. Es gehört einfach zu mir dazu, weil ich mich als politische Person wahrnehme. Ich finde das total wichtig, fĂŒr mich, mein Leben und die Welt.â
FĂŒr ZiĂșr ist es von vornherein klar, dass nicht jeder sie oder ihre Musik versteht. âIch muss nicht mit allen reden,â sagt sie schulterzuckend. âAb und zu wollte ich zugĂ€nglichere Musik machen, aber ich stellte dann fest, dass das nicht der richtige Weg ist. Ich will da keine Kompromisse eingehen. FĂŒr manche ist der Zugang vorhanden, fĂŒr andere nicht. Aber wer den Zugang hat, der oder die kann damit viel mehr anfangen.â Ăhnlich hĂ€lt sie es mit der Genderthematik, sie fĂŒhlt sich nur wohl, wenn sie mit bestimmten Leuten diskutiert: âIch will darĂŒber nicht sprechen, wenn ich das GefĂŒhl habe, es gibt keine gemeinsame Grundlage.â
Vielleicht trĂ€gt ihre Musik ja zur gemeinsamen Grundlage bei. âDas ist sicher nicht ausgeschlossen,â sinniert sie. Aber als ZiĂșr will sie das auf die sanfte Tour erreichen: âWenn man nichts vorpredigt oder jemanden in die Defensive zwingt, ist das normalerweise die bessere Art. Dann können die Leute es nĂ€mlich eher verstehen.â
Mat Dryhurst

Mat Dryhurst ist vor allem durch seine Arbeit und seine Beziehung zu Holly Herndon bekannt, denn beide laden die Musik regelmĂ€Ăig mit Botschaften auf und finden Ăberschneidungen mit Technologie. Beide sprachen sich hĂ€ufig deutlich fĂŒr die Freilassung der Whistleblowerin Chelsea Manning aus. Auch Dryhursts Arbeit als multidisziplinĂ€rer KĂŒnstler spricht netzpolitische Themen an, wenn auch etwas weniger direkt. Beispielsweise erklĂ€rt er in einer E-Mail: âIch habe viel zu Data-Mining gearbeitet. Anfangs zog ich erweitertes Wissen ĂŒber die Konzertbesucher heran, um Performances maĂzuschneidern, je nachdem, wer im Raum war. Der Hauptzweck bestand darin, die Leute mit der unsichtbaren Wirklichkeit des Daten-Tracking zu konfrontieren. Ist es angemessen, wenn man jemandem an den WĂ€nden im Berghain zu seinem neuen Job gratuliert? Es gibt jede Menge neue Fragen ĂŒber Daten und wie wir miteinander umgehen. Im Grunde geht es damit los: Wir haben alle schon einmal erlebt, wie wir eine Person zum ersten Mal treffen, ĂŒber die wir schon eine Menge wissen, weil wir online recherchiert haben. In solchen Situationen ist es unklar, wie man passendes bzw. unpassendes Verhalten bemisst und das ist das Experimentieren wert. Ich glaube, anfangs funktionierten meine Performances gut, weil sie ein Ăberraschungselement beinhalteten, aber spĂ€ter, als die Erwartungshaltung zunahm, habe ich damit aufgehört. Ich will ja keinen Partytrick daraus machen.â

Mat Dryhurst setzt auf Holly Herndons Konzerten Data-Mining beim Publikum ein
âIch habe auĂerdem einige Hörspiele gemacht. Dabei war die Idee, dass ich die Zuhörer im Vorfeld tracke und dass sich die ErzĂ€hlung unterschwellig auf ihr Leben bezieht. Das StĂŒck âMINEâ habe ich fĂŒr eine kleine Besuchergruppe gemacht, was sehr gut funktionierte. Ich baute Spuren des chinesischen Restaurants neben der Highschool ein, die jemand besucht hatte oder ein herausragendes lokales Ereignis aus seiner Jugend, weil mich interessierte, wie diese Form der subtilen Manipulation die wahrgenommene ErzĂ€hlung beeinflusst. Mit ,MUSTERâ habe ich spĂ€ter ein weiteres Hörspiel mit einem umfangreichen Datensatz zu den Hörern von Deutschlandradio Kultur durchgefĂŒhrt. Dort musste ich viel stĂ€rker von den Themen abstrahieren, um sie dann auf eine breitere Zuhörerschaft herunterzubrechen. Das war zĂ€her, aber es lohnte sich trotzdem.
Mit Firmen wie Netflix als Wegbereiter wird die Kultur, die auf persönliche Daten baut, fortbestehen. Ich befĂŒrchte, dass es fĂŒr unabhĂ€ngige Personen schwer wird, damit zu konkurrieren, es sei denn, wir machen uns klar, wie unser VerhĂ€ltnis zu dem Konzept ist und wo seine Grenzen liegen.â
Dryhursts Arbeiten zum Data-Mining setzen sich spielerisch mit der PrivatsphĂ€re im Netz auseinander. Er rief auĂerdem das Projekt Saga ins Leben, das sich mit Cut, Paste, Copy und Reblog in Onlinemedien befasst. Er formuliert es so: âSaga ist ein Publikationssystem, mit dem KĂŒnstler jede einzelne Online-ErwĂ€hnung ihrer Werke kontrollieren können. Dadurch eröffnen sich einige Optionen fĂŒr das, was ich websitespezifische Performance nennen wĂŒrde. Das heiĂt du kannst jeden Ort ĂŒbernehmen, wo dein Werk gehostet wird, ihn abschalten, Ă€ndern, auf seine Umgebung eingehen, ohne dass andere Werksversionen davon beeinflusst werden. UrsprĂŒnglich hatte man mich gebeten, ein Album zu schreiben und als ich mich fragte, wie das wohl idealerweise aussehen mĂŒsste, kam ich auf die Idee, dass ich mit meiner Arbeit mit individuellen Personen kommunizieren können möchte, was ja konsistent zu meiner bisherigen Arbeit mit Daten ist. Die nötige Technologie gab es nicht, also musste ich sie selbst zusammenbauen.
Ich will, dass meine Arbeiten irgendwie lebendig sind. Das hat wohl auch einen politischen Wert, denn Saga bedeutet, dass ein Kunstwerk zu seiner Umgebung sprechen kann und sich nicht missbrauchen lĂ€sst. Auf mich kamen Leute zu, die meinten, dass es Wissenschaftler nutzen sollten, z.B. um Publikationen zu korrigieren, die ihre Forschung fehlinterpretieren. Wenn man einmal die Logik begriffen hat, ist es ziemlich mĂ€chtig.â

Saga erlaubt es KĂŒnstlern zu verfolgen, wo ihre Werke im Internet landen und daran Ănderungen vorzunehmen - wie z. B. der darĂŒbergelegte Text in dem Bild oben.
âNehmen wir zum Beispiel diese Interview-Situation, die von Ableton gehostet wird. Ich möchte verfĂŒgen, dass alle meine Gesten online genauso herĂŒberkommen wie ich als Person. Wenn man hier ein Saga-Posting einbetten wĂŒrde, hĂ€tte ich den Freiraum, auf der Seite zu tun und zu lassen, was ich will. Manch einer fĂŒhlt sich dabei wirklich unwohl, das kann ich nachvollziehen, aber wir lernen aus solchen SpannungsverhĂ€ltnissen. Oder in einem anderen Kontext, ist es denkbar, eine Anzeige neben einem MusikstĂŒck zu verkaufen, das sich ĂŒber ein Produkt lustig machen könnte? Was geschĂ€he mit werbebasierten Medienformaten, wenn wir alle beschlieĂen wĂŒrden, auf diese Weise zu veröffentlichen?â WĂ€hrend Saga sein volles Potenzial erst noch entfaltet und angesichts eines bestehenden Webseiten-Kommentierungsservices wie Genius scheint es ein notwendiges Gegengewicht zu sein, damit kĂŒnstlerische Absichten nicht verfĂ€lscht werden.
NRSB-11
DJ Stingray und Gerald Donald (von Drexciya, Dopplereffekt, Arpanet, Japanese Telekom u.a.) veröffentlichten 2013 als NRSB-11 ihr gemeinsames Album. Die beiden Elektro-Originale sind alte Freunde aus Detroit und hatten bereits im Jahr zuvor eine EP unter ihrem Namen herausgebracht. Der Albumtitel Commodified und prĂ€gnante Tracknamen wie âConsumer Programmingâ, âLiving Wageâ und âMarket Forcesâ gaben ein starkes Statement zur kapitalistischen Konsumgesellschaft ab.
Stingray aka Sherard Ingram teilt mir per E-Mail mit: âMit der Musik ging es los, dann wurde das Konzept entwickelt. Wir tauschten kurze musikalische Ideen aus, lieĂen einige wachsen und bauten sie aus, wĂ€hrend wir andere verwarfen. Wir diskutierten regelmĂ€Ăig, kritisierten, machten VorschlĂ€ge usw.â
Ingram hĂŒtet sich zwar vor dem Begriff Protestmusik, aber er gibt unumwunden zu, dass es bei dem Projekt um mehr geht als bei einer durchschnittlichen Techno-Platte. âIch gebe mir MĂŒhe, mich nicht einfach aufs Rednerpodest zu stellen oder in Hobbyaktivismus zu verfallenâ, warnt er und hebt dann eine andere musikalische Ebene hervor. âIchwill bloĂ einen kleinen Gedanken anstoĂen und meinen Projekten mehr Tiefe geben. Das Ziel ist es, die Musik fĂŒr den Dancefloor und auch experimentelle Musik in eine Richtung zu bewegen, die inspiriert. Vielleicht kann sie ein Katalysator oder ein Soundtrack fĂŒr progressive Ansichten sein. Wir sollten versuchen, ein ernstzunehmender Bestandteil im musikalischen Leben der anderen zu sein.â
Chino Amobi
Chino Amobi ist MitbegrĂŒnder von NON, dem Kollektiv afrikanischer Musiker in der Diaspora, die deutlich eine politische Mission vertreten. Er hat einen umfangreichen Rahmen rund um seine Musik erschaffen, um gegen vorhandene Machtstrukturen zu protestieren. Dazu passend erfahren wir im folgenden Clip von Loop, wie sich dieser ganzheitliche Blick auf seine Arbeit auswirkt. Er beschreibt die GedankengĂ€nge hinter dem Track âMilanâ, vom Album Airport Music for Black Folk. Wie er erlĂ€utert, werden auf dem gesamten Album existierende FlughĂ€fen klanglich so dargestellt, wie er sie als Farbiger erlebt.
Elysia Crampton
Wie fĂŒr ZiĂșr gilt, dass Elysia Cramptons reine Existenz ein Politikum ist und die KomplexitĂ€t ihrer Musik weist darauf hin, wie tief gehend die Themen bei ihr sind. Als sie bei Loop ĂŒber ihren Track âPetrichristâ spricht, erzĂ€hlt sie, dass er zunĂ€chst eine Reise abbildete. SpĂ€ter jedoch versöhnte sie darin zwei Gottesvorstellungen und ihr eigenes VerhĂ€ltnis zu ihnen. Noch interessanter wird es, als sie ihrer ErklĂ€rung voranstellt, vieles von dem, was Musiker schreiben, könne gar nicht vollstĂ€ndig in Worten wiedergegeben werden. Das bedeutet, dass das Politische ebenso legitim rein in Klang und Musik zu finden sein könnte. Ob Musik nun verbale Mittel einsetzt oder nicht, KĂŒnstler werden immer einen Weg finden, ihre Beschwerden, Sorgen und Kritikpunkte auszudrĂŒcken â am stĂ€rksten an dem Punkt, wo das Politische ins Private ĂŒbergeht.
Texte und Interviews mit Lotic, Mat Dryhurst, ZiĂșr und DJ Stingray von Lisa Blanning