
Foto: Laszlo Ruszka.
Wenn man die Geschichte der experimentellen Musik im 20. Jahrhundert betrachtet, wird schnell klar, dass Einzelpersonen und Institutionen die wichtigsten innovativen KrĂ€fte waren â sowohl in technischer als auch in kĂŒnstlerischer Hinsicht. Manchmal prĂ€gten die Ideen und Techniken von Einzelpersonen auch die Institutionen, fĂŒr die sie tĂ€tig waren. Ein gutes Beispiel ist Karlheinz Stockhausen, dessen Name fast gleichbedeutend mit dem Studio fĂŒr elektronische Musik des WDR in Köln war. Andere Pioniere wie Daphne Oram und Delia Derbyshire blieben jedoch zu Lebzeiten weitgehend unbekannt, was sich zum Teil darauf zurĂŒckzufĂŒhren lĂ€sst, dass ihre Arbeit hauptsĂ€chlich mit der institutionellen IdentitĂ€t des BBC Radiophonic Studio gleichgesetzt wurde.Â
Die Symbiose von Pierre Schaeffer und der Groupe de Recherches Musicales (GRM) war fĂŒr die Entwicklung in der zweiten HĂ€lfte des 20. Jahrhunderts nicht nur wichtig, sondern wegweisend. Ab den 1940er Jahren formulierte Schaeffer die radikale Idee einer âkonkreten Musikâ (französisch: musique concrĂšte) und entwickelte daraus eine Kompositionsmethode, die aufgenommene KlĂ€nge als Ausgangsmaterial verwendet. Heutzutage mag dieses Konzept nicht besonders provokativ klingen. Doch als Pierre Schaeffer damals die Möglichkeiten dieser collagenartigen Herangehensweise erforschte und entschlossen die Grenzen der Aufnahmetechnologie seiner Zeit auslotete, verschob er damit gleichzeitig auch die konzeptuelle Grenze dessen, was ĂŒberhaupt als âMusikâ betrachtet werden konnte.
Die frĂŒhen Jahre der GRM (die bis 1958 noch Groupe de Recherche de Musique ConcrĂšte hieĂ) waren von dem raschen Fortschritt der Audio- und Aufnahmetechnologie in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg geprĂ€gt, insbesondere von der Entwicklung des MagnetbandgerĂ€ts. Mit hauseigenen Technikern, die spezielle Bandmaschinen bauten, mit denen neuartige Manipulationen aufgenommener KlĂ€nge möglich wurden, zog das Pariser GRM-Studio Komponisten wie Pierre Henry, Karlheinz Stockhausen und Iannis Xenakis an, um neue Werke zu schaffen, die nur dort und mit dieser Technik verwirklicht werden konnten.

Im GRM-Studio waren 1971 unter anderem auch Moog- und Coupigny-Synthesizer anzutreffen. Foto von Laszlo Ruszka
In den 1960er Jahren begann eine neue Gruppe junger Komponisten, darunter François Bayle, Luc Ferrari, Bernard Parmegian und Beatriz Ferreyra, bei der GRM zu arbeiten. Sie erweiterte das Spektrum der AnsĂ€tze fĂŒr die sogenannte akusmatische Musik â also Musik, die eigens fĂŒr Lautsprecher komponiert wurde. In den 1970er Jahren wurden die Studios von GRM um ein elektronisches Studio erweitert, das einen maĂgeschneiderten Synthesizer samt Mixkonsole zu bieten hatte. 1975 wurde GRM in das französische Rundfunk- und Fernseharchiv INA integriert und veröffentlichte bald darauf Schallplatten mit den wichtigsten Werken seiner Komponisten.
In den 1970er Jahren startete GRM eine Reihe von unterschiedlich erfolgreichen Projekten zur Integration von Computersoftware in die Komposition. Ein Durchbruch gelang 1984 mit der Entwicklung von Syter, einer Software zur Echtzeit-Audiobearbeitung. 1992 veröffentlichte INA GRM ihre erste kommerzielle Software-Sammlung, die auf manchen Syter-Algorithmen aufgebaut war und die stetig wachsende Rechenleistung von Computern nutzte. GRM Tools gilt als wahrer Software-Klassiker, der aufgrund der Klangtiefe und Unmittelbarkeit seiner Anwendungen bei Sound Designern und Komponisten nach wie vor sehr beliebt ist.

Der Komponist François Bayle (Foto aus dem Jahr 1980) war von 1966 bis 1997 der Leiter von GRM. Foto: Laszlo Ruszka
Wir hatten die Gelegenheit, mit François Bonnet, dem derzeitigen Leiter dieser geschichtstrĂ€chtigen Einrichtung, ĂŒber die Herausforderungen und Möglichkeiten seiner TĂ€tigkeit zu sprechen. In unserem GesprĂ€ch ging es natĂŒrlich auch um die sich verĂ€ndernde Rolle der Musiktechnologie und die Zukunft der experimentellen Musik. In diesem Zusammenhang bieten wir Ihnen ein kostenloses Pack mit mehr als 100 Samples, die INA GRM aus ihren Archiven ausgewĂ€hlt und freundlicherweise zur VerfĂŒgung gestellt hat.Â
Was uns besonders interessiert, weil es ziemlich einzigartig â und im amerikanischen Kontext inzwischen auch unvorstellbar â erscheint, ist die INA GRM als öffentlich finanzierte Einrichtung mit dem Zweck der Produktion und Förderung experimenteller Musik. Kannst du den Lesern, die mit der Funktionsweise des französischen Kulturapparats nicht vertraut sind, kurz erklĂ€ren, zu welchem Zweck die GRM eingerichtet wurde? Und welchen Platz nimmt sie heute in der Kulturlandschaft Frankreichs ein?Â
GRM entstand in den 1940er Jahren und im Kontext der Erforschung des Mediums Radio. Ihr GrĂŒnder Pierre Schaeffer war ein Polytechniker beim staatlichen französischen Rundfunk. Er arbeitete zuerst im Studio dâEssai [experimentelles Studio] und dann im Club dâEssai mit Dichtern und Dramatikern zusammen, um neue Ausdrucksformen ĂŒber das radiophone Medium zu entwickeln. Diese Forschungen fĂŒhrten zu seiner Theorie einer âmusique concrĂšteâ. Die GRM (ab 1958 so genannt) sollte Pierre Schaeffers Forschungsarbeit, die sich mit den Konzepten von Musique ConcrĂšte und insbesondere den Fragen der musikalischen Wahrnehmung befasste, vollenden. Damals war sie Teil einer gröĂeren Institution â dem Service De La Recherche des öffentlich-rechtlichen Rundfunks ORTF. Nach und nach wurde GRM zu einem Ort, an dem Komponisten Studien erarbeiten konnten, und ein echtes Zentrum der Musikproduktion. Die neue Generation von Komponisten brauchte keine ausfĂŒhrenden Musiker, sondern eine Bandmaschine und Zeit im Studio. Hier fanden sie beides und konnten zudem Prototypen und AuffĂŒhrungsmöglichkeiten nutzen.Â
Auch heute wird die INA GRM noch von dieser DNA genĂ€hrt und setzt die Grundidee in drei Bereichen fort: 1. Forschung (Theorie der Geisteswissenschaften und Software-Entwicklung), 2. Produktion (20 Auftragswerke pro Jahr sowie Konzerte und KĂŒnstlerresidenzen), 3. Weitergabe von Wissen (durch Publikationen und pĂ€dagogische AktivitĂ€ten).
Ist dem französischen DurchschnittsbĂŒrger die Arbeit der GRM bekannt oder kommt er mit ihr in Kontakt?
Sonderbarerweise kennen die meisten Franzosen Produktionen aus dem GRM-Umfeld, ohne GRM selbst zu kennen. Das Jingle des Flughafens Paris-Charles-de-Gaulle wurde lange Zeit von Bernard Parmegiani komponiert â einem bedeutenden GRM-Mitglied. Und die sehr erfolgreiche TV-Show âShadoksâ wurde vom Service de la Recherche produziert, mit Musik von der GRM.
Die Titelmusik von Shadoks
IRCAM, das 1977 von dem Komponisten Pierre Boulez gegrĂŒndete Institut fĂŒr Forschung und Koordination in Akustik / Musik, scheint einen Zweck zu haben, der sich zumindest teilweise mit der GRM ĂŒberschneidet. In welcher Beziehung stehen die beiden Institute?
Pierre Boulez und Pierre Schaeffer waren helle Köpfe und starke Persönlichkeiten. Pierre Boulez hat sogar eine Studie bei der GRM gemacht. Aber es war eine Zeit der starken Ăberzeugungen und WidersprĂŒche in der Kunst, und die Richtungen waren eher gegensĂ€tzlich. Das IRCAM setzte Technologie ein, um die instrumentelle Geste und das âklassischeâ Kompositionsprotokoll (eine Partitur, mehrere Musiker) zu erweitern. Die GRM nutzte Technologie hingegen zum Komponieren von Musik, deren KlĂ€nge auf vielen verschiedenen Wegen direkt vom Ohr auf die TonbĂ€nder gingen. Heute gibt es diesen Antagonismus nicht mehr. Wir tauschen uns von Zeit zu Zeit aus, vor allem ĂŒber technologische Aspekte

Pierre Schaeffer am PhonogĂšne â einer mit Tasten gesteuerten Mehrgeschwindigkeits-Bandmaschine
Die INA GRM ist ein Ort der technischen Innovation. Inwieweit waren die Komponisten / Gruppenmitglieder der Anfangszeit direkt an der Konstruktion und dem Bau von GerĂ€ten wie dem PhonogĂšne und dem Morphophon sowie den erweiterten Plattenspielern und Bandmaschinen beteiligt? Gab es so etwas wie eine Ingenieurabteilung, die auf Bestellung tĂ€tig wurde? Oder krempelten Schaeffer und Henry selbst die Ărmel hoch und nahmen den Lötkolben in die Hand?Â
Es gab immer Techniker und ein technisches Team, um die bei GRM entwickelten Ideen zu realisieren. Leute wie Jacques Poullin (der das PhonogÚne entwickelt hat), Francis Coupigny oder Bernard Durr standen bereit, um den Komponisten zu helfen und selbst neue GerÀte zu erfinden.
Von den Anfangstagen bis weit in die 1960er Jahre hinein schien es bei GRMC und GRM eine goldene Regel zu geben: Music ConcrĂšte / akusmatische Musik muss ohne elektronisch erzeugte KlĂ€nge und Synthese produziert werden. Ab den 1970er Jahren wurden bei der Musik der GRM zunehmend elektronisch erzeugte KlĂ€nge einbezogen â man hielt sich nicht mehr an die strengen Vorgaben der Music ConcrĂšte. War dies ein ideologischer Wandel? Eine Folge des Beitritts jĂŒngerer Komponisten oder der EinfĂŒhrung neuer Technologien (des Coupigny-Synthesizers)? Oder eine Kombination all dieser Faktoren?Â
Nach der Philosophie der Musique ConcrĂšte darf eigentlich jeder Klang verwendet werden, also auch instrumentale oder synthetische Sounds. Doch die frĂŒhen elektronischen KlĂ€nge waren fĂŒr die Komponisten damals uninteressant, weil sie dĂŒnn und ausdruckslos wirkten. Sie waren fĂŒr das Studio des WDR in Köln interessant, weil sie als Parameter produziert, reproduziert und notiert werden konnten. FĂŒr elektroakustische Komponisten spielte dieser Aspekt keine Rolle. Ich denke, das hat sich in den spĂ€ten 1960er Jahren geĂ€ndert, als die neuen Synthesizer (Moog, EMS und der Coupigny bei GRM) endlich in der Lage waren, satte und vielseitige Sounds zu erzeugen.
Mit der Softwaresammlung GRM Tools setzt INA GRM die Entwicklung von Musiktechnologien auch heute noch fort. Wie und wann ging es mit GRM Tools los? War GRM Tools von Anfang an als kommerzielles Unternehmen gedacht?Â
Die ersten GRM Tools erschienen in den frĂŒhen 1990er Jahren, kamen aber nicht aus dem Nichts. Manche griffen sogar auf einige frĂŒhe Erfindungen wie das PhonogĂšne und Morphophone zurĂŒck. Die meisten GRM Tools sind aber eine Fortsetzung des ersten bei der GRM entwickelten Echtzeit-Klangbearbeitungssystems: SYTER (SYsteme TEmps Reel / Realtime System) . Die Syter-Algorithmen lieferten viel Inspiration zur Entwicklung einer Sammlung von Klangprozessoren in Plug-in-Form. In dieser Form wurden sie in kurzer Zeit als kommerzielle Software entwickelt. Doch sie sind auf jahrelang entwickelten Prototypen aufgebaut.

Bernad Parmegiani. Foto: Laszlo Ruszka
Du bist mit den GRM-Archiven bestens vertraut. Gibt es Werke, die deiner Meinung nach mehr Anerkennung als bei ihrer Veröffentlichung verdienen? Anders gefragt: Was sind die verborgenen SchĂ€tze der GRM? Ist die Reihe von Wiederöffentlichungen â âRecollection GRMâ â der Versuch, sie zu heben?
In den INA GRM-Archiven schlummert definitiv noch das eine oder andere Juwel, aber eher aus den 1980er und 90er Jahren. Die Anfangszeiten sind gut dokumentiert. Aber ja â die Hauptidee von Recollection GRM war es, Schallplatten wieder verfĂŒgbar zu machen, die nur noch Second Hand und zu unglaublichen Preisen erhĂ€ltlich waren. Die zweite Idee bestand aber darin, die Bekanntheit dieses neuen Labels fĂŒr bislang unveröffentlichte Musik zu nutzen â Musik, die zwar innerhalb der GRM bekannt war, aber dem Publikum nie zugĂ€nglich gemacht wurde. Und die Reihe hat uns auch ermöglicht, Werke wiederzuentdecken.Â

Pierre Schaeffer und sein Team bei GRM, 1972. Foto: Laszlo Ruszka
Vielen Dank, dass du das Sample-Pack zur VerfĂŒgung stellst. Selbst in diesem Format bietet die Materialauswahl einen guten Ăberblick ĂŒber die sehr unterschiedlichen Herangehensweisen und individuellen Stile der Komponisten, die ĂŒber Jahrzehnte hinweg mit INA GRM in Verbindung waren. Die GRM spielte eine entscheidende Rolle bei der radikalen Erweiterung der Klangpalette und der Möglichkeiten, Klang in nahezu jeder Dimension zu manipulieren und zu transformieren. Was sind fĂŒr dich heute die spannenden Experimentierfelder fĂŒr Klang und Musik?Â
Ich denke, dass es in den ersten 50 Jahren der GRM-Geschichte (und der experimentellen Musik im Allgemeinen) darum ging, neue Wege zu finden, um KlĂ€nge zu erfinden und einen theoretischen und Ă€sthetischen Rahmen zu schaffen, in dem sich Musik entfalten kann. Es war eine notwendige Epoche, in der technologische Innovation mit einer strukturalistischen und konzeptionellen Herangehensweise an Musik verbunden wurde. Doch die Geschwindigkeit der Technologie (die alle zehn Jahre fĂŒr neue Standards sorgt) hat uns bislang nicht erlaubt, einen etwas anderen Look zu haben. Es wird aber Zeit, ihn zu haben. Der technologische Fortschritt mag immer noch vielversprechend sein, aber wir wissen jetzt, dass die nĂ€chste Innovation das musikalische Paradigma nicht mehr drastisch verĂ€ndern wird. Sie könnte es modifizieren oder erweitern, aber damit wird nicht plötzlich alles verschwinden â kein Tabula Rasa mehr.Â
Wir mĂŒssen also ĂŒber diese letztendlich naive und modernistische Idee hinwegkommen, dass die Zukunft der Musik allein in technologischen Entwicklungen liegt. Es wird Zeit, zurĂŒckzublicken und aus der Geschichte der Avantgarde zu lernen. Und es genĂŒgt ein kurzer Blick, um festzustellen, dass es noch ein riesiges Feld zu erforschen gibt: das Feld des Hörens selbst, die Beziehung und Unterschiede zwischen Musik und Sprache, den Status der Musik an sich, ihre Rolle und ihren Horizont.Â
Mit bestimmten konzeptuellen Werkzeugen werden wir in der Lage sein, eine oder mehrere wĂŒnschenswerte Richtungen fĂŒr Musik zu finden, ohne der Diktatur der Technologie gehorchen zu mĂŒssen. Zum Beispiel liegt heute die Möglichkeit in der Luft, dass KI in der Musik Einzug hĂ€lt. DarĂŒber wird viel geredet, aber wir denken auffallend wenig darĂŒber nach, was Musik ist oder sein sollte. Wie können wir eine klare Meinung ĂŒber die neuen Möglichkeiten haben, die uns die Informatik als Komponisten bietet, wenn wir nicht genauer ĂŒber den Zweck der Musik an sich nachdenken? Ein faszinierendes Thema, das wir bei GRM sehr gerne erforschen, um den relevantesten Weg zu finden â als Forscher und Software-Entwickler, aber auch als Komponisten und Musikliebhaber. Heute zu experimentieren bedeutet nicht, jedes mögliche technologische Werkzeug auszuprobieren, damit neue KlĂ€nge und Musik entstehen. Das war die Kindheit der experimentellen Musik â dringend notwendig und aufregend, aber eben eine Kindheit. Wenn wir heute experimentieren, versuchen wir herauszufinden, was Musik noch bedeuten kann â in einer Welt, in der fast alles auf Signale und Informationen reduziert ist.